Ein weiser Mann wanderte einst in den Wäldern, welche sich über die Täler des auslaufenden Himalaya-Gebirges erstrecken. Hin und wieder verweilte er um formschöne Steine, farbenfrohe Blumen oder zerklüftete Holzstücke zu betrachten.
Am Lauf eines wild mäandernden Gebirgsbaches entdeckte er einen faustgroßen Stein, der wie ein Kristall glitzerte. Die zahlreichen muldenförmigen Einkerbungen erinnerten den Weisen an die Krater auf der Mondoberfläche. Ohne zu ahnen, was er dort gefunden hatte, steckte er den Stein in seinen Lederrucksack und ging fröhlich pfeifend dem Abend entgegen.
Die Nacht verbrachte der Weise im Schutz einer berghohen Tanne, deren Äste am Boden eine Höhle mit Blick auf den Sternenhimmel formten. Trotz des verborgenen Schlafplatzes stand am nächsten Morgen ein unbekannter Mann neben der Schlafstätte des Weisen. Verschlafen rieb sich der Weise die Augen und fragte den Fremden, welches Anliegen ihn herführe.
"Mich hat ein Traum zu dir geführt", erklärte sich der Besucher, der sich als Bewohner eines nahen Dorfes zu Erkennen gab.
"Ein Traum?", sagte der Weise.
„Ja! Ich meine sogar, dass Gott mir diesen Traum gesendet hat. Woher hätte ich sonst wissen sollen, dass heute Nacht ein Wanderer unter der großen Tanne schlafen würde, der einen Schatz für mich aufbewahrt?"
Der Weise setzte sich auf und gähnte ausgiebig. "Einen Schatz? Ich? Bei mir findest du nur das, was ich auf dem Leibe trage." Er erhob sich und streckte sich, soweit es die herabhängenden Äste der Tanne erlaubten. Da fiel ihm der gestrige Steinfund ein.
"Moment", bat er und holte aus seinem Rucksack den Kristallstein hervor, "könnte dein Traum diesen Stein meinen?"
Der Dorfbewohner nahm den Stein in die Hand und sackte vor dem Weisen in die Knie. Seine Unterlippe begann zu zittern. "Da ... dada ... Das ist ein Diamant. Mindestens 1.000 Karat. Der ist ein Vermögen wert."
"Ich fand ihn gestern am Bach, talabwärts. Wie es scheint, soll er dir gehören. Ich schenke ihn dir. Möge er dir das Glück bringen, was du dir von ihm erhoffst."
Der Mann starrte ungläubig vom Stein zum Weisen und wieder zurück. Mit einem gehauchten "Habt Dank!" sprang er auf und lief in sein Dorf zurück.
Dort angekommen versteckte er den Diamanten unter einer Diele in seiner Hütte. Er erzählte niemanden von seinem Schatz, nicht einmal seiner Frau. Zuerst wollte er alles in Ruhe bedenken.
Als sich die Nacht über das Dorf senkte, wollte dem neureichen Dorfbewohner der Schlaf nicht ereilen. Ein bestimmter Gedanke rumorte in seinem Kopf. Immer wieder wälzte er sich von Seite zu Seite. Seine Frau nörgelte, dass er doch endlich mal Ruhe geben möge.
Schließlich fasste der Mann einen Entschluss. Er erhob sich aus dem Bett und eilte im Schein des Vollmondes zur großen Tanne. Zu seiner großen Freude fand er den weisen Mann noch darunter an. Er weckte ihn, fiel auf die Knie und sprach: "Verehrter Fremder. Ich bitte euch, lasst mich euer Schüler sein. Lehrt mich, mit solcher Gelassenheit einen Diamanten weggeben zu können."
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{tab Sutras zum Nicht-Begehren}
Yoga Sutra I-16: Das Nichtbegehren nach den Elementen der Erscheinungswelt führt zur Wahrnehmung des wahren Menschen, des Purushas - die höchste Form der Verhaftungslosigkeit
Tatparaṁ puruṣa khyāte rguṇa vaitṛṣṇyam
तत्परं पुरुषख्यातेर्गुणवैतृष्ण्यम्
In dieser Sutra geht es um die Frucht fortgeschrittener yogischer Praxis. Patanjali formuliert, dass wir durch den irgendwann voll integrierten Verzicht in der Lage sein werden, unser wahres Selbst (Purusha) von dem zu unterscheiden, was nicht unser wahres Selbst ist. Dadurch sinkt das Begehren weiter. So kann uns die Freude des Purushas immer häufiger erreichen.
Doch wie werde ich zum unbeteiligten Betrachter meines eigenen Lebens?
Yoga Sutra I-15: Verhaftungslosigkeit ist erreicht, wenn das Verlangen nach sichtbaren und unsichtbaren Dingen erloschen ist
dṛṣṭa-anuśravika-viṣaya-vitṛṣṇasya vaśīkāra-saṁjṇā vairāgyam
दृष्टानुश्रविकविषयवितृष्णस्य वशीकारसञ्ज्ञा वैराग्यम्
In dieser Sutra beschreibt Patanjali den Endzustand des Übens der Nicht-Anhaftung. Interessant ist, dass viele Kommentatoren diese Sutra dahingehend auslegen, dass Patanjali hierbei auch das Begehren rein spiritueller Wonnezustände im Auge hatte. Sivananda hält (ein wenig) dagegen.
Müssen wir unseren Willen bemühen oder kommt die Freiheit durch das Yoga-Praktizieren quasi "von alleine"?
Yoga Sutra I-12: Die bewusste Kontrolle der Bewegungen im Geist wird durch Übung und Verhaftungslosigkeit erlangt
Abhyâsa–vairâgyâbhyâm tan–nirodhah
अभ्यासवैराग्याभ्यां तन्निरोधः
In den folgenden Sutras wendet sich Patanjali einem neuen Bereich zu. Es geht um zwei zentrale Konzepte (oder Prinzipien bzw. Vorgehensweisen) für die eigene spirituelle Entwicklung:
Abhyasa und Vairagya
Übung und Nichtanhaften
Somit kann auch diese Sutra als grundlegend eingeordnet werden. Sie begründet die tägliche Praxis des Yogi und fordert eine bestimmte Geisteshaltung zu "weltlichen Dingen" und emotionalen Verstrickungen.
Eine Geschichte verdeutlicht die anzustrebende Geistesverfassung ...
Übung zu Yoga Sutra I-12
Übungsvorschlag für die kommende Woche:
Formuliere aus, was für dich momentan "beharrliches Üben" und "Verhaftungslosigkeit" bedeutet. Beantworte schriftlich: Wann willst du üben? Besteht dein Üben nur aus der Yogastunde oder willst du weitere Bereiche deines Lebens zum Üben nutzen. Wen ja: Welche?
Ebenso: Wo willst du in Zukunft Verhaftungslosigkeit/Nicht-Anhaftung anstreben? Werde konkret. Benenne auch, wo du dich erst einmal nicht heranwagst (z.B. Gleichmut bei Lob und Tadel, in deiner Partnerschaft etc.)
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