Das sechste Kapitel der Gheranda Samhita widmet sich Dhyana. Dhyana wird in der Regel mit Meditation übersetzt und ist im achtgliedrigen Yoga-Pfad im Yogasutra von Patanjali die siebte Stufe auf dem Weg zur Erleuchtung. Danach folgt, wie auch in der Gheranda Samhita, der Samadhi.
Die folgende Yogaschulung enthält keinerlei Stellungen bzw. körperliche Übung mehr, sondern widmet sich der inneren, geistigen Praxis. Gheranda beschreibt drei verschiedene Meditationstechniken und nominiert, welche Meditationsart (mit deutlichem Vorsprung!) die Beste sei.
Inhalt des sechsten Kapitels der Gheranda Samhita
Im Folgenden findest du meist den Volltext, an einigen wenigen Stellen Zusammenfassungen der einzelnen Verse, meist mit weiterführenden Links zu den Yoga-Techniken. Ich habe mich nach bestem Wissen bemüht, die trefflichste Übersetzung aus den Quelltexten zu wählen (hin und wieder gab es darin doch deutliche Unterschiede, wurden die Übungen völlig unterschiedlich beschrieben).
Die drei Arten der Meditation
Gheranda Samhita, Kapitel VI, Vers 1
Dhyana oder Kontemplation ist von dreierlei Art: grob, licht oder subtil.
Wenn über eine einzelne Figur wie den Guru oder eine Gottheit meditiert wird, ist es Sthula- oder grobe Meditation.
Wenn Brahma oder Prakriti (Urmaterie) wie über eine Menge an Licht kontempliert wird, so nennt sich dieses Jyotis- oder lichte Meditation. [Alternativübersetzung: Meditation über Lichtkomplexe]
Wenn Brahma als ein Punkt [...] kontempliert wird, handelt es sich um Sukshma- oder subtile Meditation. [Alternativübersetzung: Meditation, die sich auf Punkte bezieht].
Sthula Dhyana (grobe Meditation)
Sthula:
Sanskrit für grob, dick, groß, massiv, grobstofflich, materiell, der sichtbare Körper; Gegenpol zu Sukshma. Die physische Welt ist Sthula, die Astralwelt ist Sukshma. Der physische Körper wird auch Sthula Sharira genannt.
Gheranda Samhita, Kapitel VI, Vers 2
[Schließe die Augen und ] Stelle dir im Herzen deines Körpers ein wunderbares Nektarmeer vor, in dessen Mitte sich eine Insel aus Perlen erhebt. Der Strand dieser Insel glitzert in der Sonne, weil er von Diamanten bedeckt ist.
Gheranda Samhita, Kapitel VI, Vers 3
In allen vier Himmelsrichtungen finden sich Nipa-Bäume mit vielen Blüten. Die Nipa-Bäume umgeben die Insel wie ein Schutzwall.
Nipa-Baum = Laubbaum (Haldina cordifolia oder Kadamba), der weit über 20 Meter hoch wachsen kann und interessante Blütenstände ausbildet.
Gheranda Samhita, Kapitel VI, Vers 4
Ferne stelle sich der Yogi viele Blumen und Blüten verschiedener Bäume auf der Insel vor, die mit ihrem Duft die Luft erfüllen.
Gheranda Samhita, Kapitel VI, Vers 5
In der Mitte von diesem Garten stelle sich der Yogi einen herzerfreuenden Wunschbaum voller Blüten und Blumen vor. Seine vier Äste repräsentieren die vier Veden;
Gheranda Samhita, Kapitel VI, Vers 6
Insekten summen herum und Kokilas [eine Kuckucksart] singen auf dem Baum. Der Yogi stelle sich daneben mit aller Beharrlichkeit einen Baldachin aus Edelsteinen vor.
Gheranda Samhita, Kapitel VI, Vers 7
Darin findet sich ein kostbarer Thron, auf dem sich die individuelle [oder: besondere] Gottheit befindet, wie sie dem Yogi vom Guru gelehrt wurde.
Gheranda Samhita, Kapitel VI, Vers 8
Der Yogi kontempliere beständig über die Form, die Ornamente [den Schmuck] und die Hilfsmittel [andere Übersetzung: das Fahrzeug] der Gottheit.
Das nennt sich Sthula-Dhyana, die grobe Meditation.
Gheranda Samhita, Kapitel VI, Vers 9
Eine andere Art von Sthula-Dhyana:
Der Yogi stelle sich sein Gehirn als tausendblättriger Lotus vor. Im Zentrum befindet sich ein zwölfblättriger Lotus,
Gheranda Samhita, Kapitel VI, Vers 10
deren Blätter weiß sind und hell strahlen. Auf jedem Blatt findet sich der Reihe nach einer der folgenden Laute:
Ha, Sa, Ksa, Ma, La, Va, Ra, Yum, Ha, Sa, Ksa und Phrem
Gheranda Samhita, Kapitel VI, Vers 11
Im Zentrum von diesem kleineren Lotus finden sich drei Linien a, ka und kha, die ein Dreieck mit den Eckpunkten ha, la und ksa bilden. Darinnen befindet sich das Pranava [=heilige Silbe] OM.
Gheranda Samhita, Kapitel VI, Vers 12
Danach stelle man sich eine wunderschöne Bank aus Nada [Klang] und Bindu [Punkt, Shiva oder Bewusstsein] vor. Auf dieser Bank sind zwei Schwäne und ein Paar Sandalen aus Holz.
Gheranda Samhita, Kapitel VI, Vers 13
Dort [oder Dann] stelle man sich den Guru als Gottheit vor, mit zwei Armen, drei Augen und weiß gekleidet. Er ist eingecremt mit weißer, duftender Creme und trägt Girlanden mit weißen Blüten.
Gheranda Samhita, Kapitel VI, Vers 14
Zu seiner Linken steht Shakti [weibliche Urkraft] in blutroter Farbe.
Wer so über den Guru kontempliert erreicht Sthula Dhyana.
Jyotir Dhyana (oder Tejo-Dyana oder Lichtmeditation)
Jyoti:
Sanskrit für Licht, Glanz, Strahlen, Helligkeit.
Gheranda Samhita, Kapitel VI, Vers 15
Gheranda sagt: Nun habe ich Sthula Dhyana erklärt. Höre nun über die Kontemplation des Lichts Jyotir- [bzw. Tejo-] Dhyana, durch welchen der Yogi Erfolg erreicht und sein Selbst [Atman] sieht.
Gheranda Samhita, Kapitel VI, Vers 16
Im Muladhara befindet sich die Kundalini [Urkraft], die wie eine Schlange aussieht und auch so geformt ist. Darin wohnt der Jivatman [Seelenatem], der wie die Flamme einer Lampe geformt ist. Der Yogi stelle sich diese Flamme wie einen leuchtenden Brahma [Hauptgott] vor. Das ist Tejo Dhyana oder Jyotir Dhyana.
Muladhara: Chakra in der Nähe des Perineums;
Gheranda Samhita, Kapitel VI, Vers 17
Eine andere Art:
Im Nabelzentrum befindet sich die Sonnenscheibe, die wie Feuer leuchtet. Der Yogi betrachte im Geist dieses große, alles durchdringende Licht. Das ist ebenfalls Tejo Dhyana.
Hinweis: Dieser Vers findet sich nicht in allen Übersetzungen.
Gheranda Samhita, Kapitel VI, Vers 18
Eine andere Art:
In der Mitte der zwei Augenbrauen über den Manas [= innerer Sinn; Geist; Verstand] befindet sich ein Licht, das aus OM besteht. Der Yogi kontempliere über dies als eine Reihe aus verbundenen Flammen. Das ist eine weitere Methode der Meditation über das Licht.
Sukshma Dhyana (oder subtile Meditation)
Sukshma:
Sanskrit für subtil, fein, schmal, dünn, feinstofflich. Gegenteil von bzw. Gegenpol zu Sthula, siehe oben. Die physische Welt ist Sthula, die Astralwelt ist Sukshma.
Gheranda Samhita, Kapitel VI, Vers 19
Oh Chanda, du hast von Tejo [Jyotir] Dhyana gehört. Höre nun von Sukshma Dhyana.
Wenn durch ein großes und gutes Glück die Kundalini [beim Yogi] erwacht,
Gheranda Samhita, Kapitel VI, Vers 20
verbindet sie sich mit dem Atman, verlässt den Körper durch das Portal der zwei Augen und erfreut sich ihrer selbst beim Wandeln auf der königlichen Straße [andere Übersetzung: Astral-Licht].
Aufgrund ihrer Hintergründigkeit und ihrer großen Wandelbarkeit kann sie nicht gesehen werden.
Gheranda Samhita, Kapitel VI, Vers 21
Dennoch: Der Yogi, der Shambhavi Mudra praktiziert, wird erfolgreich sein im Dhyana. Dieses wird Sukshma Dhyana genannt, ist ein großes Mysterium und wird selbst von den Göttern nur schwer erlernt. Es ist sorgfältig geheim zu halten.
Die Rangfolge der Dhyana-Arten
Gheranda Samhita, Kapitel VI, Vers 22
Die Kontemplation über das Licht – Tejo- oder Jyotir-Dhyana – ist hundertmal höher als Sthula Dhyana – der Kontemplation über die Form; und Hunderttausendmal höher als die Kontemplation über das Licht ist die Kontemplation über Sukshma, das Subtile.
Gheranda Samhita, Kapitel VI, Vers 23
Oh Chanda, damit habe ich dir den schwer zu erreichenden Dhyana Yoga erzählt, ein höchst kostbares Wissen. Weil dem Yogi dabei sein eigenes Selbst – Atman – erscheint, ist diese Kontemplation etwas ganz Besonderes.
{tab Bücher}
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{tab Dhyana im Yoga-sutra}